Rostock-Lichtenhagen 2012: „Ich bin hier, weil ihr hier seid“

Am 25. August 2012 sprach Kien Nghi Ha auf der Abschlusskundgebung zum Gedenken des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen von vor 20 Jahren. Er ist promovierter Kultur- und Politikwissenschaftler, Autor und Vorstand des Vereins korientation e.V. In seiner Rede spricht Kien Nghi Ha aus einer deutsch-vietnamesischen Perspektive und trägt seinen Leserbrief vor, der direkt nach dem Pogrom von 1992 in der taz erschien.

Der Leserbrief von damals im Wortlaut:

„Pogrom in Rostock

Lothar Kupfer, Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, fühlte sich nach den Angriffen so „betroffen“, obwohl die rassistische Angriffe gar nicht ihm galten. Warscheinlich fühlte sich Kupfer auch schon vor den Bränden als Opfer von Verleumdungen, in denen ihm Inkompetenz und Versagen vorgeworfen wird. Aber dies zeugt immerhin von einer guten Einschätzung der eigenen Fähigkeiten. Die „Betroffenheit“, falls sie bestand, reichte jedoch nicht zu einem Besuch des Flüchtlingsheims in Rostock-Lichtenhagen als Zeichen des Mitgefühls bzw. der Solidarität, was von Antifaschisten unter Lebensgefahr praktiziert wurde. Komisch bzw. traurig ist nur, daß der „Betroffene“ Kupfer sogleich das Asylrecht durch „Ergänzung“ abschaffen will, und sogar Verständnis für faschistisch-rassistische Gewalt aufbringen kann. Aber auch dieser Akt des triefenden Opportunismus und der Verlogenheit ist nur ein Kapitel im Buch „Politik auf Kosten von MigrantInnen“.

Gleichzeitig wurden und werden Opfer zu Täter gemacht, Verbrechen relativiert, „erklärt“ und entschuldigt und die versuchten Mörder damit entlastet, wenn nicht sogar freigesprochen. Das Prinzip der Machterhaltung hat in dieser Demokratie Vorrang. Schließlich sind die braven faschistoiden BürgerInnen auch die WählerInnen von heute und die gewaltätigen Kids die Wähler von morgen. Die meisten Politiker der etablierten Parteien trauen sich nicht den Deutschen ihr Spiegelbild zu zeigen, das von der mangelnden Aufarbeitung der nazistischen Vergangenheit und dem allgegenwärtigen Rassismus in der deutschen Gesellschaft verzerrt ist. Durch die Sozialisation haben wir alle, bei einem mehr beim anderen weniger, diese Auffassungen irgendwo verinnerlicht.

Es ist viel leichter mit bequemenen Scheinwahrheiten zu leben, indem die Deutschen sich als Opfer der „Flut von Asylanten“, von „kriminellen Ausländern“, die in den Park herumlungern und damit das deutsche Ordnungsgefühl irritieren, von „Wohnungsklauern“ oder von „Dumpingarbeitern“ sehen. So werden aus Priviligierten plötzlich bedauernswerte Opfer, Benachteiligte und ungerecht Behandelte. Schließlich kommen noch „Zukunftsängste“, ein „Bruch in der Biografie durch das verfallende Sozialmillieu einschließlich Elternhaus“, „Werteverfall aufgrund des Zusammenbruchs der DDR und der sozialistischen Werte“, Arbeitslosigkeit, Alkohol und Langeweile hinzu, die das Bild abrunden. Müssen wir MigrantInnen und Flüchtlinge da nicht akzeptieren, daß die armen Jungs halt ein Ablaßventil brauchen. Aber keine Sorge, der nächste Aufschwung kommt bestimmt.

Die Realität ist jedoch, dass MigrantInnen und vor allem Flüchtlinge in einem viel stärkeren Maß unter Zukunftsängsten aufgrund der rechtlichen Ungleichbehandlung (unsichere Aufenhaltsstatuten, keine politische Partizipation und Bürgerrechte) und einer noch schlechteren Situation auf dem Arbeitsmarkt leiden. Hatten wir keinen Bruch in unserer Biografie als wir nach Deutschland kamen und teilweise Familien durch Bürgerkriege, politischer, religiöser oder ethnischer Verfolgungen, Morde oder einfach durch Armut auseinander gerissen wurden? Wurden wir hier nicht mit einer neuen dominierenden Kultur mit anderen Werten konfrontiert? Und haben die Flüchtlinge, die keine Arbeit finden nicht ebenfalls Langeweile? Aber wem interressiert das? Wir veranstalten, obwohl unsere Probleme den der Ossis im nichts nachstehen, keine Pogrome! Daher kann dieser Erklärungsansatz kaum befriedigend. Diese Gewalt hat seine Wurzeln im gesellschaftsfähigen Nationalismus, Rassismus und Faschismus. Die rassistisch-faschistischen Gewaltäter unterscheiden sich nur durch die angewandte Gewalt von den achso braven BürgerInnen, aber nicht durch ihre Auffassungen. Noch leugnen sie, die PolitikerInnen, die SoziologInnen, die BürgerInnen, aber wie lange noch?“

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